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Die Stadt Hameln und ihre Juden
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Ein Gang durch 700 Jahre gemeinsamen Lebens

Die Zeit des Nationalsozialismus

Die Familie Kratzenstein

Dr. Kratzenstein, der kleine Mann mit dem Buckel, der auch nachts noch mit dem Fahrrad seine Patienten besuchte - so haben ihn alte Hamelner noch in der Erinnerung behalten.

Siegmund Kratzenstein, 1876 in einem Dorf in Nordhessen geboren, gehörte einer Generation von Juden an, die sich aus engen Verhältnissen durch großen Bildungswillen hocharbeitet. Er macht Abitur und studiert anschließend Medizin. Das jüdische Krankenhaus in Köln ist seine erste Stelle. Hier lernt er auch seine spätere Frau kennen, Sabina Elze. 1903 kommen die beiden nach Hameln.

Im 1. Weltkrieg dient Siegmund als Stabsarzt im Hamelner Reservelazarett und betreut schließlich das große russische Gefangenenlager am Wehl. Für seine Dienste erhält er das Kriegsverdienstkreuz.

Nach 1900 baut er das stattliche Haus Kastanienwall 3 und richtet hier Praxis und Wohnung ein. Dr. Kratzenstein muss ein außerordentlich beliebter Arzt und angesehener Bürger gewesen sein. Alle, die sich an ihn erinnern, berichten im Ton höchsten Lobes von ihm. Mittellose Patienten behandelt er kostenlos.

Haus Kratzenstein neu
Das Haus Kastanienwall 3 im Jahre 2006

Das Gesetz vom 22. April 1933 entzieht jüdischen Ärzten die Kassenzulassung. Bald betreut Dr. Kratzenstein nur noch die kleine jüdische Gemeinde der Stadt, muss sich "Krankenbehandler" nennen.

Er ist 1933 57 Jahre alt, arbeitet viel in seinem Garten. Nach Auskunft seines überlebenden Sohnes war es "sein größter Wunsch, noch auswandern zu können". Er lernt Englisch, sogar Hebräisch. Und er gibt Juden, die vor der Auswanderung stehen, Unterricht in Englisch.

Die eigene Auswanderung misslingt. Möglicherweise hat er sie, der sich so sehr als Deutscher fühlte, auch nicht so energisch betrieben und Hitler nicht ernst nehmen wollen. Sicher war es auch die soziale Verpflichtung der jüdischen Gemeinde gegenüber, die zunehmend zusammenschmilzt und bald überwiegend aus armen und alten Menschen besteht - all jenen, denen die Flucht aus Deutschland nicht gelang. Im November 1937 lässt er sich zum Vorsteher der jüdischen Gemeinde wählen.

Kratzenstein Porträt
Porträt von Dr. Kratzenstein wenige Tage vor
seinem Tode (Quelle Stadtarchiv Hameln)

Am 9.November 1938 zerschlagen SA-Leute seine Praxis am Kastanienwall und führen den Mann vor die brennende Synagoge.

Aus dem KZ Buchenwald, wohin er mit 9 anderen Hamelner Juden verschleppt wird, wird der schwer misshandelte Mann bereits am 25. November nach Hameln entlassen, offensichtlich, weil er todkrank ist. Kurt Adler, dem im Anschluss an seine Entlassung aus Buchenwald die Auswanderung gelingt, berichtet: "Man hatte ihn so zugerichtet, dass ich ihn nicht mehr erkannte. Man hatte ihm den Buckel eingeschlagen."

Kratzenstein stirbt wenige Tage nach seiner Entlassung in seiner Wohnung. Die Familie setzt ihn auf dem verwüsteten jüdischen Friedhof bei; sein Grab erhält keinen Stein.

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© Bernhard Gelderblom Hameln