Bild
Die Stadt Hameln und ihre Juden
Bild
Bild

Der Kibbuz Cheruth in den Dörfern um Aerzen in den Jahren 1926 – 1930

Arbeiten und Leben im Kibbuz Cheruth

Hermann Gradnauer als Motor

Die innere Organisation, also die Suche und Verteilung der Arbeitsstellen und die persönliche Betreuung, machten vier Leute, Alfred van der Walde aus Emden, Alisa Fass aus Berlin, Seew Orbach aus Thüringen, dessen Eltern aus Polen eingewandert waren, und Schura Oscherowitsch, der in Russland geboren war. Sie waren vier-fünf Jahre älter als die übrigen Mitglieder und hatten bereits Erfahrungen als Leiter örtlicher jüdischer Jugendgruppen gesammelt und waren zumeist auf Einzelhachscharah gewesen.

  

Von besonderer Bedeutung war Hermann Gradnauer. Gradnauer war zur Zeit der Gründung von Cheruth im Jahre 1926 32 Jahre alt. Er war ebenfalls in der jüdischen Jugendbewegung groß geworden, lebte als Zahnarzt in Hameln und hatte 1925 gerade zwei Jahre im Kibbuz Ein Charod in Palästina verbracht, seinen Aufenthalt dort aber abbrechen müssen, ohne aber sein zionistisches Ziel aufzugeben.

Bild

Für Ari Ben Ami, vormals Louis Walischoffski, war er nicht nur ein wunderbarer Zahnarzt:

"Aba, Vater, haben wir ihn genannt. ... Herrmann war ein sehr guter Kerl. Er hat alles für andere getan, das ist nicht immer gut. Er hat für seine Frau zu wenig Zeit gehabt."

Es heißt, Gradnauer habe seiner Frau den Besitz nur eines Kochtopfes gestattet, um stets zur Alijah, zum Aufbruch nach Palästina, gerüstet zu sein. Immer sorgte er um "seinen" Kibbuz. Wenn sie auf seinem Zahnarztstuhl saßen, soll er die Bauern aus dem Hamelner Umland um Arbeitsstellen angegangen sein.

Hanni Wertheim, ein anderes Mitglied des Kibbuz, erzählt:

"Hermann Gradnauer hat die Sache in der Hand gehabt. Er hat sozusagen die Gruppe zusammen gehalten, denn wir waren alle noch sehr jung.
Er hat keine Anstrengung gescheut. Er war die Adresse für alle. Ich kam dann abend an und selbstverständlich hat er mich vom Bahnhof abgeholt, und ich habe selbstverständlich dort übernachtet."

Gradnauer lag besonders daran, die jungen Leute mit den harten Realitäten in Palästina vertraut zu machen, die er aus eigener Erfahrung kannte. Über die Erziehungsarbeit des Kibbuz schreibt er:

"Und all die Menschen kamen doch unvorbereitet. Und nun stürzte auf sie ein Strom von Ssichot (=Unterrichtsstunden), Pegischot (=Treffen) ein, so daß sie außerhalb der Arbeit wiederum nicht einen Augenblick Ruhe und Freiheit hatten.

Auf der Pegischa, alle Sonntag einmal in zwei Wochen, herrschte ein Geist allgemeiner Verantwortlichkeit und ungewöhnlicher Disziplin. In den stickigen Gaststätten in Aerzen, Linse und Holzhausen verbrachte man den ganzen Sonntag in Ssichot, außer den Stunden der Mittagspause, die dem Spiel und Sport gewidmet waren, manchmal auch in der Hirtenbude in Pyrmont. Erst später, als die Jugendburg bei Hameln uns zur Verfügung gestellt wurde, wurden die Chawerim von den Gastwirten unabhängig, die unzufrieden waren, da man keinen Alkohol verzehrte. Nun gab es einen bequemen Platz für die Pegischot.

Die Mahlzeit bestand aus Stullen, die von zu Hause mitgebracht wurden, zusammen mit der Marmelade, die gekauft werden musste, da diese von den Bauern nicht gegeben wurde. Auch die Form stand fest, die Brote wurden vorher geschnitten und vorbereitet und an jeden verteilt. Erst auf die Losung "Leteawon" (=Guten Appetit) wurde mit dem Essen begonnen.

Der Hauptinhalt der Ssicha bestand aus der gemeinsamen Errechnung des Arbeitslohnes, Beratungen über die Eroberung von Arbeitsplätzen und der Behandlung von einzelnen aktuellen Vorfällen. Es wurde über jeden einzelnen Chawer und über seine Beziehungen offen gesprochen, Fehler der Chawerim dienten nicht als Beschuldigung der Einzelnen, sondern waren Gegenstand einer grundsätzlichen Aussprache, die an Hand von Beispielen, die aus der Wirklichkeit geschöpft waren, lehren wollte, was der Chewra (=Gemeinschaft) schädlich ist und was ihre Entwicklung fördert. Rückhaltlos wurde Rechenschaft über jeden Lohnpfennig verlangt. Das war die schwerste Prüfung für jeden in seiner Beziehung zum Kibbuz, denn es ist kaum vorstellbar, was nicht alles offen und scharf jedem gesagt wurde. Aber die Chawerim nahmen auch diese Last auf sich, obwohl sie sich sehr schwer daran gewöhnen konnten, und zwar taten sie es aus dem Bewusstsein, daß nur auf diesem Weg das Gefühl der Verantwortlichkeit gestärkt werden kann, ... daß er vor das Gericht der Öffentlichkeit gestellt wird."

Seitenanfang

© Bernhard Gelderblom Hameln