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Die Stadt Hameln und ihre Juden
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Auf den Spuren des früheren jüdischen Lebens in Hameln - ein Stadtrundgang

Standort 4

Kastanienwall 3

Wohnhaus und Praxis von Dr. Siegmund Kratzenstein

 
Siegmund Kratzenstein gehörte einer Generation von Juden an, die sich aus engen Verhältnissen durch großen Bildungswillen hochgearbeitet hatte. Er stammte aus einem Dorf in Nordhessen; sein Vater war Küfer gewesen. Er machte Abitur in Korbach und studierte Medizin. Am jüdischen Krankenhaus in Köln lernte er seine spätere Frau Sabina kennen, eine Jüdin aus Rotterdam.

1903 kamen die beiden nach Hameln. Dr. Kratzenstein eröffnete eine Praxis als praktischer Arzt, baute das stattliche Haus Kastanienwall 3 und richtete hier Praxis und Wohnung ein.

Im Ersten Weltkrieg diente der junge Arzt als Stabsarzt im Hamelner Reservelazarett und betreute das russische Gefangenenlager am Wehl. Für seine Dienste erhielt er das Kriegsverdienstkreuz.

Dr. Kratzenstein muss ein außerordentlich beliebter Arzt und angesehener Bürger gewesen sein. Alle, die sich an ihn erinnern, berichten im Ton höchsten Lobes von ihm: Dr. Kratzenstein – der kleine Mann mit dem Buckel, der auch nachts noch mit dem Fahrrad seine Patienten besuchte. Mittellose Patienten behandelte er kostenlos.

Die ersten Maßnahmen des Dritten Reiches hatten zum Ziel, jüdischen Menschen ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage zu entziehen. Im April 1933 verloren jüdische Ärzte die Kassenzulassung, jüdische Rechtsanwälte die Zulassung zunächst zum Landgericht und zum Amtsgericht. Beides kam einem Berufsverbot gleich.

Als Teilnehmer am 1. Weltkrieg konnte Dr. Kratzenstein zunächst die Kassenzulassung nicht entzogen werden. Trotzdem ging sein Einkommen ständig zurück. Bald betreute er nur noch die wenigen Juden der Stadt. 1938 verloren alle jüdischen Ärzte die Approbation, mussten sich "Krankenbehandler" nennen und durften nur noch jüdische Menschen behandeln.

Siegmund Kratzenstein war 1933 57 Jahre alt. Nach Auskunft seines überlebenden Sohnes arbeitete er viel in seinem Garten. "Sein größter Wunsch" sei es gewesen, noch auswandern zu können. Er lernte Englisch, sogar Hebräisch und gab Juden, die vor der Auswanderung standen, Unterricht in Englisch.

Die eigene Auswanderung misslang. Möglicherweise hat er sie, der sich so sehr als Deutscher fühlte, auch nicht energisch genug betrieben und Hitlers Drohungen nicht ernst nehmen wollen. Sicher war es auch die soziale Verpflichtung der jüdischen Gemeinde gegenüber, die ihn im November 1937 zu ihrem Vorsteher wählte, die ihn mit der Auswanderung zögern ließ.

Die Gewalt des 9. November 1938 richtete sich in besonders grässlicher Weise gegen Siegmund Kratzenstein – vielleicht, weil die Täter wussten, dass ihn so viele Bürger mochten. In dieser Nacht suchten SA-Männer sein Haus auf. Seine Praxis wurde zerschlagen, die Wohnung geplündert, er selbst aus seinem Haus geschleppt und vor die brennende Synagoge geführt. Mit ihm wurden zehn jüdische Männer in dieser Nacht in "Schutzhaft" genommen und in das KZ Buchenwald verschleppt.

Goebbels hatte mit Hitlers Genehmigung die schreckliche "Aktion" des 9. November 1938 inszeniert, um auf diese Weise den deutschen Juden besonders drastisch klar zu machen, dass sie in Deutschland nicht erwünscht waren.

Am 25. November wurde der schwer misshandelte Mann todkrank aus Buchenwald entlassen. Kurt Adler, dem im Anschluss an die Entlassung aus Buchenwald die Auswanderung gelang, berichtete:

"Man hatte ihn so zugerichtet, dass ich ihn nicht mehr erkannte. Sie haben ihm den Buckel eingeschlagen."

Dr. Kratzenstein starb wenige Tage nach seiner Entlassung. Die Leiche musste in aller Heimlichkeit auf dem verwüsteten jüdischen Friedhof beigesetzt werden. Das Grab hat damals keinen Stein erhalten. Seine genaue Lage ist nur zu vermuten.

  

Was wurde aus seiner Familie?

Nach dem schrecklichen Tod ihres Gatten nahm die Ehefrau Sabina ihre holländische Staatsangehörigkeit wieder an und ging nach Den Haag. Dort starb sie an Magenkrebs. Das Schicksal der Deportation blieb ihr auf diese Weise erspart.

Der Sohn Leon Elias, ein Kunstmaler, hielt sich schon seit Anfang 1934 zusammen mit seiner Frau Elisabeth in den Niederlanden auf. Im Jahre 1943 wurden beide in das Vernichtungslager Sobibor verschleppt.

Nur dem Sohn Ernst gelang die Ausreise.

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© Bernhard Gelderblom Hameln