Von der Familie blieb einzig Selma Frankenstein, eine Schwester von Max, im Hause Neue Marktstraße 13 zurück. Die 73-jährige Frau wurde am 23. Juli 1942 von Hameln über Hannover-Ahlem in das Altersghetto Theresienstadt deportiert. Von dort wurde sie am 23. September 1942 in das Vernichtungslager Treblinka verschleppt und ist dort verschollen.
Selma Frankenstein, die Besitzerin des Hauses Neue
Marktstraße 13
Die Einrichtung des Judenhauses
Das "Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden" vom 30. April 1939 bildete die Grundlage für die Isolierung der Juden von der nichtjüdischen Bevölkerung und für ihre Unterbringung in "Judenhäusern". Dabei sollten die jüdischen Bewohner "gegebenenfalls zwangsweise" in relativ wenigen, möglichst in jüdischem Besitz befindlichen Häusern "zusammengefasst" werden.
Ein Beamter der Stadtverwaltung, der Vermessungsrat Reiche, wählte zwei in jüdischem Besitz befindliche Häuser aus, Pferdemarkt 8 und Neue Marktstraße 13.
Sie waren nun die beiden "Judenhäuser" der Stadt. Es folgten "Wohnungsumsetzungen" mit dem Ziel, möglichst viele Juden in diesen Häusern zu konzentrieren. Um "arische Häuser" "judenfrei" zu machen, wurden Vermieter und Mieter zur Auflösung des Mietverhältnisses gedrängt. Die Eigentümerinnen der beiden "Judenhäuser" forderte Reiche ultimativ auf, mit den "umzusetzenden" Juden Mietverträge abzuschließen. Jeder Mietvertrag, an dem ein Jude beteiligt ist, musste von Vermessungsrat Reiche genehmigt werden. Häufig waren es auch "deutsche Volksgenossen", die "Wohnungsumsetzungen" in Gang brachten, um an bessere Wohnungen zu kommen.
Die ersten "Wohnungsumsetzungen" begannen in Hameln im Oktober 1939. Im Sommer 1940 war die "Belegung" der "Judenhäuser" im Wesentlichen abgeschlossen. In Hannover kam das Gesetz erst im September 1941 zur Anwendung. Die Hamelner Stadtverwaltung legte bei der Einrichtung der "Judenhäuser" einen ganz besonderen Eifer an den Tag.
Anfang 1941 lebten im "Judenhaus" Neue Marktstraße 13 siebzehn jüdische Frauen, Männer und ein Kind, alle unter sehr beengten Verhältnissen. Die Mehrzahl der Bewohner war alt. Nur vier Männer waren darunter. Viele der Menschen waren alleinstehend, häufig verwitwet.
Die Menschen litten unter einer Vielzahl behördlicher Anordnungen, die ihr Alltagsleben immer enger einschnürten. Telefon, Führerschein, Fahrräder, sogar das Haustier hatten sie abgeben müssen. Die Bewegungsfreiheit war stark eingeschränkt. Jeder auswärtige Besuch musste vorher bei der Stadtverwaltung beantragt werden. Im Sommer 1941 wurde die Einkaufszeit auf eine Stunde am Tag beschränkt.
Ab 1. September 1941 galt die Polizeiverordnung über die "Kennzeichnung der Juden". Alle über sechs Jahre alten Juden mussten sichtbar an ihrer Kleidung den "Judenstern" tragen. Scham und Angst ließen sie nun kaum noch die Straße betreten.
Wovon die Menschen ihren Lebensunterhalt bestritten haben,
ist unklar. Öffentliche Fürsorge gab es für sie nicht mehr. Die Menschen
lebten in bitterer Armut, von der Substanz, von gegenseitiger Hilfe, auch
von heimlich gewährter Unterstützung.
Leben im "Judenhaus" Neue Marktstraße
Martha Cohn führte mit ihrer älteren Schwester Hertha ein kleines Geschäft für Damenputz in der Ritterstraße. Die kranke Schwester starb 1937. Der einzige noch lebende Angehörige, ihr Bruder Erich, war zu dieser Zeit schon in die USA emigriert. Ganz allein musste sie sich um die Bestattung der Schwester kümmern. Die Bestattung musste heimlich vor sich gehen. Für einen jüdischen Leichnam von einem Tischler einen Sarg zu bekommen, war ganz schwierig.
Martha gab das Putzgeschäft auf, wohnte nun in der Fischpfortenstraße 18. Sie lebte kümmerlich von Näharbeiten sowie von Übersetzungen ins Englische und Französische.
1940 musste sie ins "Judenhaus" Neue Marktstraße 13 umziehen. Sie bewohnte dort zwei kleine schräge Dachkammern mit Blick auf die Hummenstraße.
Eine ältere Dame aus Hameln hat die Erinnerung an Martha Cohn aufbewahrt. Als Kind habe sie Martha Cohn im "Judenhaus" besucht, um ihr im Auftrag ihrer Eltern Näharbeiten und etwas Lebensmittel zu bringen. Besuch im "Judenhaus", Hilfe gar waren gefährlich. Das kleine Mädchen wusste nichts von der Gefahr. Seine Eltern halfen trotzdem, hatten auch 1937 geholfen, als es so schwer war, einen Sarg für die verstorbene Schwester Hertha zu beschaffen.
Eine Erinnerung an Martha Cohn ist der älteren Dame noch geblieben: eine Begegnung auf der Straße im Jahre 1941: Martha Cohn mit Davidstern, den sie mit der Handtasche zu verdecken sucht. Das kleine Mädchen will grüßen, Frau Cohn blickt weg, tritt auf die Straße, will das Mädchen nicht mit einem Gruß kompromittieren.
Nachdem Martha Cohn irgendwann im Jahre 1942 von der Polizei die Aufforderung bekommen hatte, sich zum Transport bereitzuhalten, bat sie die befreundete Familie, für sie einige Bücher aufzubewahren. Die Bücher – es handelte sich um jüdische Gebetsbücher und eine mehrbändige Ausgabe der Thora – seien ihr als Erinnerung an ihren Vater lieb und teuer. Nach dem Kriege möchte sie diese wieder abholen.
1942, im Alter von 47 Jahren, wurde Martha Cohn in das Ghetto Warschau deportiert.
Am Ende des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verdrängungsprozesses
stand die physische Vernichtung./p>
Am 31. März 1942 ging von Hannover aus ein Transport mit 500 Personen aus den Regierungsbezirken Hannover und Hildesheim in das Ghetto Warschau. Der Transport galt den "arbeitsfähigen" Juden und ihren Kindern. Vierzehn von ihnen stammten aus Hameln.
Die Teilnehmer des Transportes fanden im Warschauer Ghetto katastrophale Bedingungen vor. Zeitweise lebten dort auf engstem Raum 500.000 Menschen. Ab Juli 1942 gab es regelmäßige Deportationen nach Treblinka und andere Orte der Vernichtung.
Von der "Evakuierung in den Osten" war ausgenommen, wer über 65 Jahre alt war. Die älteren deutschen Juden wurden zur "Wohnsitzverlegung" in das "Altersghetto" Theresienstadt aufgefordert. Für diesen Personenkreis war der Transport vom 23. Juli 1942 gedacht. Er umfasste 15 Personen aus Hameln.
In Theresienstadt starben viele Menschen wegen der schlechten Versorgung und der unhaltbaren hygienischen Zustände. Für andere war Theresienstadt nur eine Zwischenstation auf dem Wege nach Auschwitz oder in ein anderes Vernichtungslager.
© Bernhard Gelderblom Hameln