Bild
Die Stadt Hameln und ihre Juden
Bild
Bild

Die Vernichtung jüdischen Lebens - 1933 bis 1945

Deportation und Vernichtung. Das Jahr 1942

Familie Birnbaum

Das alte Ehepaar Elias und Henrietta Birnbaum wohnte zur Miete im Hause des Glasermeisters Carl Büthe in der Großen Hofstraße 17 in der 2. Etage. Elias handelte mit Alteisen.

Sohn Max wurde 1893 geboren. Im Jahr der sogenannten Machtergreifung war er 40 Jahre alt. Er hatte Schlosser gelernt und war im Weltkrieg als Kriegsfreiwilliger Soldat gewesen. Er besaß das Eiserne Kreuz und das Ehrenkreuz für Frontkämpfer.

Max war mit Margarete verheiratet. Die Eheleute wohnten in der Deisterstraße, damals "Straße der SA", im Hause Nr. 45 und betrieben dort ein Eisenwarengeschäft. Das Haus gehörte den Eltern der Ehefrau. Zwei Kinder, Grete und Alfred, wurden 1922 und 1924 geboren. Drei Generationen, sechs Menschen.

Birnbaum
Hier befand sich das Eisenwarengeschäft der Familie Birnbaum.

Schon vor 1933 waren die Birnbaums antisemitischen Übergriffen und Anfeindungen ausgesetzt. 1930 mussten sie ihren Lagerplatz verlegen, da der bisherige am Güterbahnhof von der Reichsbahn gekündigt wurde. Im "Stürmer" erschien daraufhin die Meldung, dass

"der Saujude Max Birnbaum seinen Schrotthaufen in den bekannten Garten gegenüber der Bahnhofstraße verlegt habe und dadurch die Einfahrt zur Stadt verunziert".

Seitenanfang

Die Boykottaktionen setzten dem Geschäft stark zu. Die SA stahl den LKW und übergab ihn einem Geschäftskonkurrenten. Später wurde Birnbaums verboten, Rohmaterial zu kaufen. Fensterscheiben wurden eingeworfen, Inventar gestohlen. Birnbaums mussten die Eisenwarenhandlung 1937 aufgeben.

Im Dritten Reich machten die Birnbaums zunächst keine erkennbaren Anstalten, Deutschland zu verlassen. Ohne Zweifel haben sie sich als Deutsche gefühlt, hingen mit Ihren Gefühlen sehr an diesem hingen und hielten Hitler nur für eine vorübergehende Erscheinung.

Mit der wachsenden Dauer des Dritten Reiches wuchs das Bewusstsein der Gefährdung. Die Eltern entschlossen sich zu einem schweren Schritt: Sie schickten ihre Kinder ins Ausland.

Die Tochter Grete ging im Alter von 15 Jahren im Dezember 1937 nach Holland, um sich dort in einem Ausbildungslager auf das Leben in Palästina vorzubereiten.

1938 besuchten die Eltern ihre Tochter in Holland. Diese wollte sie zum Dableiben überreden. Doch der Vater lehnte ab.

"Ich mache keine illegalen Sachen. Ich habe vier Jahre für Deutschland gekämpft."

Im Sommer 1939 wird die Tochter nach einer abenteuerlichen Schiffsfahrt Palästina erreichen und in Haifa illegal an Land gehen.

Den dreizehnjährigen Alfred schickte der Vater 1939 mit einem Kindertransport nach England. Eltern und Großeltern blieben in Hameln.

Im Anschluss an die "Reichskristallnacht" musste Max Birnbaum sechs schreckliche Wochen im KZ Buchenwald verbringen. Um entlassen zu werden, musste er sich zur Auswanderung und zum Verkauf des Hauses verpflichten.

Ein Visum eines aufnahmebereiten Landes zu erhalten, war 1939 fast unmöglich geworden. Eine Schiffspassage war in Devisen zu bezahlen. Der erste Versuch, im Palästinabüro Berlin die Ausreise zu erwirken, scheiterte am fehlenden Geld. Trotzdem verfolgte Max Birnbaum hartnäckig die Ausreise.

Seitenanfang

Neuer Termin war der 7. März 1939. Max und Margarete Birnbaum verfügten bereits über einen Reisepass. Aufgrund ihres geringen Vermögens brauchten sie weder "Reichsfluchtsteuer" noch "Judenvermögensabgabe" zu zahlen.

Im April 1939 wurden die Eheleute plötzlich verhaftet und zur Untersuchungshaft ins Hamelner Gerichtsgefängnis eingewiesen. Was war geschehen? Um die Auswanderung zu beschleunigen, hatten sich die Eheleute dazu verführen lassen, die erforderlichen ausländischen Devisen auf dem Schwarzen Markt zu erwerben. Damit hatten sie gegen das Devisengesetz verstoßen.

Max Birnbaum  Margarete Birnbaum
Max und Margarete Birnbaum in den 1930er Jahren

Margarete nahm sich in der Haft das Leben. Sie konnte die Schande, im Gefängnis zu sitzen, nicht verwinden. Ihre Beisetzung fand auf dem damals bereits total demolierten jüdischen Friedhof in der Scharnhorststraße statt.

Einen Monat nach dem Tod seiner Frau wurde der Ehemann durch das Schöffengericht Hameln zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Die Lokalpresse berichtete über den Fall.

"Wegen Vergehens gegen die Devisengesetze hatte sich der frühere jüdische Produktenhändler Max Israel Birnbaum zu verantworten. Um die Einreiseerlaubnis nach Palästina zu erhalten, wurden von ihm Devisen verlangt, die er nicht besaß.

Um aus dieser Not herauszukommen, wurden Devisen beschafft, nämlich u. a. fünf Dollar, zwanzig engl. Pfund und andere Goldmünzen und goldene Ringe sowie eine goldene Armbanduhr. Ferner wurde versucht, Bekleidungsstücke nach holländischen Staatsangehörigen zu verschieben. Der Angeklagte war geständig.

...

In der Urteilsbegründung wurde anerkannt, dass der Angeklagte bisher unbestraft war und sonst seine Pflichten erfüllt hat."
(NTZ Weserbergland vom 21.6.1939)

Seitenanfang

Bei der Verhandlung hatte Max Birnbaum zur Begründung angegeben:

"Ich bin drei Wochen im KZ gewesen. Mir ist bei meiner Entlassung aus dem Lager mitgeteilt worden, dass ich sobald wie möglich auswandern müsse, wollte ich nicht Gefahr laufen, demnächst dauernd in einem Konzentrationslager Aufnahme zu finden."

Anfang November 1939 hatte Max Birnbaum die Gefängnisstrafe abgesessen. In seine alte Wohnung Straße der SA 45 konnte er nicht zurück, weil das Haus verkauft war. Er wollte deshalb zu seinen Eltern in die Große Hofstraße ziehen. Am 13. Oktober des Jahres – Max war noch in Haft – schrieb der alte Elias Birnbaum an den zuständigen Vermessungsrat Reiche:

"Ich bitte um die Genehmigung, dass ich meinen verwitweten Sohn Max Israel Birnbaum in meiner Wohnung aufnehmen darf.
Der Hauswirt Herr Carl Büthe hat mir bereits die Einwilligung erteilt.
Mit ergebener Hochachtung
Jude Elias Birnbaum
Kennnummer: A 00051."

Auf dem Original des Briefes findet sich handschriftlich die Reaktion von Reiche: ein doppelt unterstrichenes "Nein".

Schreiben von E. Birnbaum
Schreiben von Elias Birnbaum an den Oberbürgermeister vom 13.10.1939 mit der
Randbemerkung von Vermessungsrat Reiche (Quelle Stadtarchiv Hameln)

Reiche war in diesen Monaten damit beschäftigt, die ersten Juden in die beiden Hamelner "Judenhäuser" einzuweisen. Erst nach weiteren demütigenden Bittbriefen erteilte Reiche schließlich die Genehmigung.

Noch einmal, am 16. November 1939, beantragte Max Birnbaum die Ausstellung eines Passes. Anfang März schrieb er den folgenden Brief "an den Herrn Oberfinanzpräsidenten in Hannover".

"Max 'Israel' Birnbaum

Wir waren seit Jahren, wie auch amtlich nachweisbar, mittellos.

Die Kosten des Transportes in Höhe von 1.200 RM wollen mir Verwandte zur Verfügung stellen, da ich gänzlich mittellos bin. Der Antrag auf Freigabe des Betrages dafür liegt bei Ihnen vor, und erlaube ich mir, Sie ergebenst zu bitten, ihn unter Berücksichtigung meiner Notlage zu genehmigen.

Ich gestatte mir, dabei noch darauf hinzuweisen, dass ich Kriegsfreiwilliger und Frontkämpfer war und das Eiserne Kreuz sowie das Frontkämpfer-Ehrenkreuz erhielt. Durch die erlittenen Kriegsstrapazen ist mein Gesundheitszustand sehr schlecht. Ich bin dauernd kränklich und nie wieder voll arbeitsfähig geworden."

Seitenanfang

Der Oberfinanzpräsident gab dem Antrag auf Freigabe der 1.200 RM nicht statt. Damit waren alle Pläne zur Auswanderung gescheitert.

1941 mussten Großmutter Henrietta und Sohn Max Birnbaum in ein gemeinsames Zimmer im "Judenhaus" Neue Marktstraße umziehen. Max Birnbaum fuhr zur Zwangsarbeit in einer Papierfabrik täglich nach Rinteln.

Zwangsarbeit
 
Bild

Zwangsarbeit
Wegen der Zwangsarbeit in Rinteln muss Max Birnbaum die Eisenbahn benutzen
und benötigt dafür eine Genehmigung (Quelle Stadtarchiv Hameln)

Der 49-jährige Max wurde am 31. März 1942 in das Ghetto Warschau deportiert. Die 72-jährige Henriette gehörte zu dem Transport, der dreieinhalb Monate später nach Theresienstadt ging.

Henriette Birnbaum
Henriette Birnbaum

Seitenanfang

 

© Bernhard Gelderblom Hameln